Als Oma Anni in Dortmund Tempo machte
Als Stefan Grubendorfer Anfang Dezember 2022 an einem Bauernhof in Lüdinghausen vorbeifuhr, traute er seinen Augen nicht. Da stand es. Unglaublich. Ein motorisiertes Dreirad aus den 1930er-Jahren – genannt Tempo. Mit exakt so einem Gerät war seine Uroma Anni Drenkelforth Mitte der 1930er-Jahre durch Dortmund gedüst.
Aber der Reihe nach. 1933 kauften Anni und der Schlosser Friedrich Drenkelforth in der Landgrafenstraße, Ecke Alter Mühlenweg, eine Trinkhalle, in der in den ersten Jahren auch ihre Söhne Hermann und Friedrich mitarbeiteten. Die Trinkhalle lief mehr schlecht als recht. Dann sagte Hermann Drenkelforth: „Wenn wir was werden wollen, dann müssen wir größer einkaufen und zum Markt gehen, dann haben wir mehr Auswahl und können auch billiger verkaufen.“ Und so brachen die Drenkelforths meistens morgens um 4 Uhr auf – mit einer großen Handkarre mit zwei großen Rädern vom Mühlenweg in Marten über die alte B1 zum Gemüse-Großmarkt und voll beladen wieder zurück. Schließlich musste um 8 Uhr der Laden geöffnet werden. Im Laden arbeiteten auch ihre Töchter Anni und Hildegard und die Verkäuferin Irma Hackenbart.
1935 kaufte Vater Friedrich Drenkelforth ein Dreirad-Auto – einen „Tempo“. Diese erste Motorisierung war für die Händlerfamilie ein Quantensprung, denn nun konnten sie täglich mehrere Märkte anfahren und so ihr Sortiment ausweiten und qualitativ verbessern. Der Tempo wurde von der 1928 gegründeten Vidal & Sohn Tempo-Werk GmbH mit Sitz in Harburg gebaut. Damals durften Kraftfahrzeuge mit weniger als vier Rädern und einem Hubraum von weniger als 200 Kubikzentimetern ohne Führerschein gefahren werden und waren steuerfrei. Nun konnte Oma Anni richtig Tempo machen.
Als eine der ersten Frauen weit und breit düste sie zum Großmarkt und erregte dort große Aufmerksamkeit. Anfangs hielt sich in der Dortmunder Nachbarschaft das Gerücht, dass sie nicht gewusst habe, wie der Tempo ausgemacht wurde. Sie sei deshalb so lange um die Häuser gefahren, bis das Benzin alle war. In Wahrheit fuhr Oma Anni aber bis spät in den Abend Einkellerungskartoffeln aus. Dabei kam es auch vor, dass „Anni die Powerfrau“ den Tempo mal übertrieb und das Dreirad ein paar Meter weit quietschend auf zwei Rädern durch die Straßen knatterte.
Als Friedrich Drenkelforth 1938 mit 56 Jahren nach einem Grubenunglück eines Tages nicht mehr nach Hause kam, war Anni mit ihren sechs Kindern von heute auf morgen auf sich alleine gestellt. Aber aufgeben war für „Oma Anni“ keine Option. Sie baute zusammen mit ihren Söhnen Hermann und Fritz die alte Trinkhalle um. „Die Trinkhalle haut nicht richtig hin, weil die Leute nur davorstehen, die müssen da auch reingehen können.“ Gesagt, getan. Die Trinkhalle bekam einen Eingang, das Sortiment wurde erweitert, und die Drenkelforths verteilten Flugblätter: „Obst und Gemüse täglich frisch!“ Nach dem Umbau von der unzugänglichen Trinkhalle zum begehbaren Gemüseladen erzielten die Drenkelforths schnell höhere Umsätze. Schon bald sprachen alle Menschen in der Dortmunder Nachbarschaft nur noch von der „Anni- Bude“…
Und daran musste Urenkel Stefan Grubendorfer denken, als er in Lüdinghausen den Tempo sah. Wenig später gehörte er ihm. Und nun steht der Tempo in Herdecke und erinnert an „Oma Anni“..